Wake up call: Remain or leave old concepts?
In Österreich gehen innerhalb der nächsten beiden Jahre die Spitzen der größten Bundesländer – Wien, NÖ, OÖ – ebenso wie die Präsidenten der beiden Sozialpartner Wirtschaftskammer und Gewerkschaft in Pension. Ein Detail am Rande, aber nicht ganz unwesentlich, ist: alle sind Männer.
Damit stellt sich am Ende des zweiten(!) Jahrzehntes des 21. Jahrhunderts die Modernisierungsfrage aus einer bisher nicht diskutierten Perspektive:
Von Menschen mit welcher Lebenserfahrung und aus welchen Lebenswelten werden diese wichtigen österreichischen Gremien in Zukunft geleitet?
Damit eng verbunden ist die Frage:
Von Personen mit welcher Lebenserfahrung wollen Sie persönlich vertreten werden?
- Von Menschen, die hoch spezialisiert, einen Schwerpunkt in ihrem Leben gewählt haben und diesen auch gut beherrschen. Aber eben aufgrund ihrer Spezialisierung kaum Zeit für andere Perspektiven hatten.
- Oder von Menschen, die vielfältige Erfahrungen in verschiedenen Sprachen und Kulturen, in unterschiedlichen Berufen und Branchen und verschiedenartigen Lebenswelten und Lebensphasen mitbringen.
Warum ist das Ausmaß an unterschiedlichen Lebenserfahrungen ein wichtiger Aspekt für Führungsfunktionen?
Weil wir in einer immer komplexeren Welt leben und immer häufiger bemerken, dass alle Handlungen in unserem Leben wie bei einem Mobile Auswirkungen auf ganz andere Bereiche unseres eigenen Lebens und/oder auf die Lebenssituation anderer Menschen, manchmal auch ganz weit weg von uns, haben: an dieser einen Figur ziehen bewirkt, dass auch alle anderen in Bewegung kommen. Heute ein Smartphone benützen inkludiert Menschen, die unter qualvollen Bedingungen Seltene Erden aus dem Boden holen, ebenso wie der Diamantring, über den wir uns freuen, oftmals durch ein blutiges Setting zu uns gefunden hat bzw. die Erlöse, die damit erwirtschaftet wurden, die Taschen eines autoritären Regimes füllen und damit dessen Machtposition stärken.
Können wir uns das jedes Mal genau überlegen und hinterfragen? Wenn wir nicht wahnsinnig werden wollen, nein. Menschen werden auf Planet Erde immer Informationen und Perspektiven auswählen und ihre Handlungen priorisieren müssen. Aber je vielfältigere Lebenserfahrungen ein Mensch in einer Entscheiderfunktion mitbringt, desto eher wird dieser Mensch die Komplexität der Entscheidungen begreifen und viele Auswirkungen berücksichtigen. Wahrscheinlich wird dieser Mensch auch mit vielen anderen auf Augenhöhe kommunizieren, weil er oder sie die Perspektiven und Anliegen der anderen aufgrund des eigenen Erfahrungsschatzes besser nachfühlen kann.
Eine Möglichkeit einen vielfältigen Hintergrund zu haben, ist natürlich das Alt-werden. Selbstverständlich stellt sich da gleich die Frage, wie jemand die Zeit des Alt-werdens genützt hat, welche Arten und welche Vielfalt an Erfahrungen wurden gesammelt?
Eine weitere Chance für einen weiten Horizont bieten die Situationen des Zusammenlebens, die eine Person durchlebt hat:
Das Setting der Herkunftsfamilie bietet dabei ebenso viele Erfahrungsmöglichkeiten wie die verschiedenen eigenen Partnerschafts- und Familienformen: vom Single-Dasein bis zur Patchworkfamily, die nur über unterschiedliche Partnerschaftsstadien und Kinder im Haushalt erreicht werden kann, gibt es eine große Bandbreite an Perspektiven.
Ein möglicher Aspekt ist dabei auch die Örtlichkeit der Wohnadresse: innerhalb eines Landes können Stadt-Land-Regionen einen fast ebenso großen Unterschied machen wie das zeitweilige Leben in verschiedenen Kontinenten.
Meist unterhalten wir uns in der Praxis aber über die berufliche Erfahrung, manchmal noch über die berufliche Ausbildung eines Menschen.
Dies entspricht noch dem in entwickelten Gesellschaften überholten Karrieremodell der männlichen Familien-Ernährer, in dem nur der Berufskontext eines Menschenlebens wahrgenommen wird, und Frauen grosso modo für den als unbedeutend bewerteten Heim- und Kinder-Bereich zuständig sind.
Die große Chance, die sich nun bietet, ist, dass wir unsere Organisationen – seien es Unternehmen oder Interessensvertretungen oder öffentlich-rechtliche Einheiten – so weiterentwickeln, dass Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten und mit verschiedenen Erfahrungen nicht nur daran teilnehmen, sondern auch Führungs- und Spitzenpositionen einnehmen können.
Bei den kommenden Neubesetzungen ganz bewusst Frauen in die Entscheidung und in die Auswahl einzubeziehen, wäre ein erster und dringend notwendiger Schritt alte Konzepte zu verlassen und neue aufzubauen.
Aktuell hat die Abstimmung über den Brexit gezeigt, wie bedeutsam es ist, wenn die Entscheider-Eliten den Kontakt zu den anderen vielfältigen Lebenswelten und Perspektiven verloren haben. Wenn wir in Österreich verantwortungsbewusst in die Zukunft gehen, dann dadurch, dass wir Brücken bauen bevor die bestehenden komplett niedergerissen sind. Der anstehende Generationenwechsel bietet uns dafür eine große Chance. Nützen wir sie gemeinsam!